Reformation als Bewegung und Veränderung in Kirche und Staat
Tagung
Kirche und Staat im 19. Jahrhundert
Torgau/Elbe, 14. und 15 Oktober 2016
Ort: Torgau, Schloß Hartenfels, Plenarsaal, Flügel D (Innenhof), 2. Etage
Nachbetrachtungen und Podiumsdiskussion
Die 19. Tagung des Fördervereins Europa Begegnungen e.V. begann mit der Präsentation der Kopie des Gemäldes „Elias und die Baalspriester“, 1545, von Lucas Cranach d.J. auf Holz, Maße: 127,50 x 242,00 gemalt, welches der Kunstmaler Volker Pohlenz vorstellte. Die Bildkopie wurde der Öffentlichkeit erstmals im Rahmen der Tagung präsentiert.
Das Cranach-Bild selbst war seiner Zeit ein Auftrag, den Martin Luther gelegentlich der Weihe der Torgauer Schlosskapelle, 1544, der Maler-Werkstatt gegeben hatte. Nach einem Jahr Arbeit in Wittenberg wurde es in der Kapelle des Torgauer Schloss Hartenfels, dem Kanzelkorb direkt gegenüber angebracht. Im Verlaufe der Jahrhunderte gelangte das Gemälde nach Dresden und ist dort bis zum heutigen Tag aufbewahrt und zwar in der Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden.
Ungünstige raum-klimatische Verhältnisse in der Torgauer Schlosskapelle lassen es nicht zu, das Bild an originaler Stätte wieder anzubringen. Die gelungene Kopie von Volker Pohlenz könnte dafür aber schon genutzt werden.
Warum hatte Luther dem (jüngeren) Cranach empfohlen nun gerade das „Elias-Thema“ aus dem Alten Testament bildlich darzustellen?
Insbesondere nach 1540 standen sich das katholische und das lutherisch-evangelische Lager unversöhnlich gegenüber. Die Protestanten, hier der militärische Schmalkaldische Bund, erkannten, dass es um die Existenz der neuen Kirche und der dazugehörigen Staaten mit der evangelischen Glaubensrichtung ihrer Bevölkerung ging.
Selbst ein Luther zeigte an, dass die christliche Moral der neuen Kirche nicht so verstanden werden dürfe, dass daraus eine generelle Selbstaufgabe bzw. eine Selbstauslöschung zu folgern sei.
War es bei Luther, mit seinem Auftrag an Cranach, unter der damaligen angespannten Situation, in der es, wie gesagt, um die Selbstbehauptung, eben um die Existenzfrage ging, in Richtung des Kaisers eine „Drohung“, den Bogen gegenüber dem Schmalkaldischen Bund nicht zu überspannen? Wir wissen es nicht.
Die Sinnhaftigkeit der Darstellung auf dem Cranach-Bild ist ja nicht die Erzählung, dass der wahre und einzige Gott (Jahwe) dem Propheten Elias mit dem Entzünden des Opferaltars beisprang und dem Volk des Königs Ahab den Weg zu dem Gebot „Ich bin der Herr Dein Gott…“ wies.
Vielmehr kommt unser heutiges (modernes) Gemüt an einer ganz bestimmten Stelle des Bildes durcheinander, nämlich, genau dort, wo unser Blick auf das massenhafte Töten der Baal-Propheten (eben der Anhänger des anderen Lagers) fällt, ausgeführt durch die Elias-Gefolgschaft (auf dem Bild auf der linken Seite dargestellt).
Ist es sinnvoll oder doch zu sehr verkürzt, wenn wir fragen: „Töten im Namen des einen wahren Gottes?“
Die Auseinandersetzung mit dieser speziellen Frage sei einmal jedem Einzelnen Bildbetrachter überlassen.
Doch wollen wir nochmals daran erinnern, dass es nach 1540 tatsächlich um die Existenz der neuen, der lutherischen Glaubensrichtung ging. Das wäre das Eine.
Das Andere zeigt sich darin, dass der Historiker beim Erzählen oder Aufschreiben der Vergangenheit ein bestimmtes Kredo zu beachten hat. Da ist eine wissenschaftliche Vorgabe, die da lautet: „Du sollst dem Historischen und besonders den geschichtlichen Personen mit Respekt begegnen und ein Verständnis für die damalige Situation entwickeln.“ M.a.W., wenn das Alte Testament die Elias-Geschichte so erzählt, muss sie auch heute voll inhaltlich so wieder in Erscheinung treten.
Des Weiteren wollen wir folgend noch eine Tatsache aus jenen angespannten Jahren erzählen:
Neben dem Elias-Bild, welches den Willen zur tätigen Selbsterhaltung anzeigt, malten beide Cranachs, der Ältere und der Jüngere, zur gleichen Zeit, 1544/45, große Jagdszenen, die ein Geschehen auf der ostelbischen Seite, direkt gegenüber dem eindrucksvollen Torgauer Residenzschloss abbilden.
Die großflächigen Bilder zeigen den „lutherischen“ Johann Friedrich den Großmütigen, damals regierender sächsischer Kurfürst, welcher gemeinsam mit seinem Widersacher, dem „katholischen“ Kaiser Karl V., der Jagd nachgeht. Eine solche Jagd-Szene hat es in Wirklichkeit nie gegeben. Die Cranachs malten gemäß eines Auftrages des Kurfürsten (Luther wusste wahrscheinlich davon), wenn man so will, „Wunschbilder“.
Was wurde seitens der Protestanten gewünscht?
Der Kurfürst und Luther meinten, nicht Krieg, vielmehr Frieden, Ausgleich, Anerkennung sollten die gefährliche Lage in jener Zeit entschärfen. So sind die Cranach-Bilder auch als große „Flugschriften“ zu verstehen, die im anderen Lager ein Bedenken auslösen sollten.
Kurzum: Es ist unser Vorschlag, dass, wenn immer in Torgau die genannten Cranach-Gemälde, wie das Elias-Bild oder die Jagdbilder mit dem Schloss Hartenfels im Original oder in Kopie gezeigt werden, dann sollten stets beide Stücke der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Sie gehören zusammen. Und wir sagen nochmals:
Das Elias-Bild sagte den damaligen Gegnern des protestanischen Konfessionsstaates: „Bis hierher und nicht weiter!“
Die Jagd-Bilder zeigten hingegen die andere Seite, nämlich die Diplomatie, gedacht, Ausgleich, Frieden und Gemeinsamkeit zu schaffen.
Wir hier in Torgau können dann den interessierten Besuchern die „Große Geschichte“ um die Behauptung oder den Fall des neuen Evangeliums erzählen.
Es kam nach der „Bilderangelegenheit“ zwei Jahre später zur Schlacht bei Mühlberg. Der Kaiser siegte. Die dadurch an die Macht gekommenen albertinischen Kurfürsten, Moritz, dann August und weitere, verteidigten jedoch weiter die Lutherische Kirche. Herrscher, Staat und Volk blieben allesamt lutherisch.
Zur Organisation der Tagung:
Die Grußworte an die Tagungsteilnehmer sprachen die Torgauer Oberbürgermeisterin Romina Barth und der Stellvertretende Landrat Ulrich Fiedler.
In die Tagungsmappen wurden neben der Teilnehmerübersicht mit der Adressliste, dem Wissenschafts- bzw. Tätigkeitsprofil der angemeldeten Personen (Teilnehmerzahl über 80, hinzu traten über 10 weitere Interessierte) und dem Tagungsprogramm folgende Stücke eingefügt:
- Die jeweilige Zusammenfassung der acht Tagungs-Hauptvorträge.
- Eine Medieninformation der Stiftung Luthergedenkstätten zum Erweiterungsantrag (einschließlich für das Schloss Hartenfels und die Schlosskapelle, Torgau in Sachsen) bei der UNESCO-Weltkulturerbekommission in Paris
- „Torgau, das politische Zentrum der Lutherischen Reformation“ von Dr. U. Niedersen, ein Ganzseitenartikel in: TZ-Spezial, Torgauer Zeitung, 21.9.2016) den Grundriss (Zeichnung) der Gesamtanlage des Torgauer Schloss Hartenfels von Friedrich Tucholsky, Torgau 1929.
- Ein Info-Text über die Friedenskirchen in Jauer (Jawor) und Schweidnitz (Swidnica), beide Polen, von Arno Herzig, aus: Schlesien. Das Land und seine Geschichte in Bildern, Texten und Dokumenten; Sonderausgabe der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, 2008.
Letzteres Material diente der inhaltlichen Vorbereitung der Tagungs-Exkursion zu den genannten Friedenskirchen mit ca. 40 Teilnehmern, die am Sonntag, 16. Oktober 2016, erfolgte.
Ein Bericht von Claus-Peter Grobe über die ganztägige Exkursion nach Schlesien liegt diesem Tagungsresümee bei.
Im Tagungssaal (Flügel D) befand sich der Büchertisch, der durch den Veranstalter und einigen Teilnehmern mit geschichtshistorischer Literatur ausgestattet worden war.
Anzumerken ist hierbei, dass es einen reichlich ausgelegten Bücherbestand der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Dresden bei kostenfreier Mitnahme gab.
Weitere Interessierte wenden sich bitte, um einen Bücherkatalog zwecks kostenloser Buchsendungen zu erhalten, an: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, Schützenhofstraße 36, 01129 Dresden, Telefon: 0351 - 853180, Telefax: 0351 - 8531855, E-Mail: info@slpb.smk.sachsen.de
Weiter wollen wir die Herausgabe eines eigenen Buches anzeigen, welches der Förderverein Europa Begegnungen e.V. pünktlich zur Tagung, bei der es ja um „Staat und Kirche im 19. Jahrhundert“ ging, erstellt hatte. Das neue Buch erscheint in: „Beiträge zur Geschichte des bürgerschaftlichen Lebens in Torgau im 19. und übergehenden 20. Jahrhundert“, Titel: „Die Torgauer Zündschnur-Fabrik“ (Uwe Niederen), einer neuen Serie des Vereins. Das Buch ist zu einem moderaten Preis beim Tagungsveranstalter zu beziehen, siehe Postadresse, Tel.-Nr. oder E-Mail. Wir schicken es zu. Einen Text, der das Zündschnur-Buch inhaltlich vorstellt, legen wir diesem Tagungsresümee ebenfalls bei.
Als Veranstalter wollen wir wiederum mitteilen, dass während der Lutherdekade auch der web-Auftritt des Vereins www.vesteburg.com weiter betrieben wird. Auf dieser web-Seite ist auch der web-Auftritt über die „Festung Torgau“ zu finden.
Im Tagungssaal waren, neben dem Bild „Elias und die Baalspriester“, einige Posterstände eingerichtet:
- V D M I Æ - VERBUM DOMINI MANET IN AETERNUM (Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit) gemeißelt in Torgau, 16. Jhdt; Devise Friedrich des Weisen u. des Schmalkaldischen Bundes (Uwe Niedersen und Sieglinde Lawrenz; Malgruppe 725)
- Kirchen und bedeutende Männer Torgaus im 17. und 18. Jhdt. (Förderverein Europa Begegnungen e.V.)
- Kirchen in Torgau (Dieter Dudek und Norbert Lange; Sachsen-Preußen-Kollegium des Förderverein Europa Begegnungen e.V.)
- Die Preußische Festung Torgau im 19. Jahrhundert (Norbert Lange und Förderverein Europa Begegnungen e.V)
Peter Junge vom Verein Friedenslauf von Rom e.V. hatte des weiteren einen Informationsstand über einen besonderen Lauf, der von Rom aus gestartet wird – vom Vatikan nach Wittenberg - eingerichtet und beantwortete Anfragen.
Zum Abschluss der beiden Tagungstage gab es am Sonnabend, 15.10.2016, nachmittags eine Führung durch die Sonderausstellung „Schätze einer Fürstenehe“. In dem dazugehörigen Prospekt heißt es:
„Herrliche Prunkkleider, darunter ein außerordentlich anmutiges fürstliches Damenkleid von goldgelber und lachsroter Seide mit Stickerei und Spitzenbesatz in Gold und Silber und ein weiß-silbernes fürstliches Bräutigamsgewand mit Goldborte nebst dem dazugehörigen Mantel mit den Initialen des Brautpaares, preziöse Prunkwaffen, Medaillen, Fürstenbildnisse und Bücher zeugen in der Sonderausstellung von der Hochzeit, dem Eheglück und dem reichen Vermächtnis des Kurfürstenpaares Johann Georg I. von Sachsen (1585–1656, Kurfürst ab 1611) und Magdalena Sibylla (1586–1659), das 1607 auf Schloss Hartenfels in Torgau sein „Beilager“ vollzog. In dem die Stadt Torgau parallel zur Ausstellung Paaren die Möglichkeit einer standesamtlichen Trauung im Schloss einräumt, wird aktuell erlebbar, wie sehr die heutige Hochzeitspraxis noch auf fürstlichen Traditionen fußt“.
Die Zusammenfassungen der Vorträge waren bereits in den Tagungsmappen mit enthalten,
so dass folgend die Inhalte der Podiumsdiskussion vorgelegt werden.
Die Podiumsdiskussion
(Bearbeitung Uwe Niedersen)
Geschichte und Geschichtsschreibung
Das Podiumsgespräch wurde vom Moderator (Dr. Niedersen) mit der Frage eröffnet, in welchem Umfang Torgau im Rahmen der sächsischen Landesgeschichte Berücksichtigung findet. Man habe den Eindruck, dass die Stadt für den Zeitraum von 1815 bis 1990 von der sächsischen Landesgeschichte nicht behandelt werde. Das stehe in gewissem Widerspruch zu der Tatsache, dass sich 1990 bei der Wiederbildung der Länder auf dem Gebiet der DDR eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung des Kreises Torgau auf Grund ihres Traditionsverständnisses bei der Wahlabstimmung entsprechend des Ländereinführungsgesetzes für Sachsen entschieden hat. Die für die sächsische Landesgeschichtsschreibung getroffenen Feststellungen zum Zeitraum 1815 bis 1990 würden aber in gleichem Maße auch für die brandenburg-preußische Geschichtsschreibung zutreffen, die die 1815 zu Preußen gekommenen ehemaligen sächsischen Gebiete auch nur am Rande behandele. Wie würden sächsische Landeshistoriker diesen Problemkreis beurteilen?
Damit war Prof. Groß angesprochen, der in seinem Konferenzreferat einen Überblick über die Geschichte Sachsens im 19. Jahrhundert gegeben hatte.
Prof. R. Groß (Kreischa)
„Mit der Frage der Behandlung Torgaus in der sächsischen und brandenburg-preußischen Landesgeschichte wurde eine Grundfrage von Geschichtsdarstellung und Geschichtsschreibung angesprochen. Es kommt für die Behandlung eines historischen Ereignisses immer auf die Abstraktionsebene an, je nachdem, ob Weltgeschichte, Nationalgeschichte, Landesgeschichte oder Lokalgeschichte der Gegenstand ist. Da bei geht es ja immer um historische Räume, wobei die Landesgeschichte in besonderer Weise mit dem historischen Raum verbunden ist, denn das Land grenzt sich ab, hat besondere Merkmale und Eigenheiten, ist eine deutlich erkennbare Einheit. Das trifft natürlich auch auf das Land Sachsen zu, das sich in seiner historischen Entwicklung von über tausend Jahren in seinem historischen Raum als Territorialstaat immer wieder geändert hat, dies nicht im Kernland, aber in seinen „Randgebieten“. Dafür können die Jahre 929, 1089, 1247, 1423, 1485, 1547, 1635, 1815 und 1990 als entscheidende Zäsuren der staatlichen Ausprägung in größeren oder kleineren historischen Räumen angesehen werden.
Damit gibt es immer wieder unterschiedliche historische Räume als Gegenstand landesgeschichtlicher Betrachtung. Daraus ergibt sich für den Landeshistoriker im Zusammenhang mit der zeitlichen Dimension die Entscheidung, auf welcher Abstraktionsebene man sich bewegt, ob es sich um eine landesgeschichtliche Gesamtdarstellung, um regionale Darstellungen oder um lokalgeschichtliche Abhandlungen handelt. Als Beispiele ist auf die „Geschichte Sachsens“ auf die fünf Bände „Kulturlandschaften Sachsens“ sowie auf die „Historischen Stätten Deutschlands“ (Autor jeweils R. Groß, U.N.) hingewiesen.
Für die sächsische Landesgeschichtsschreibung kann man wohl nicht von einer Vernachlässigung sprechen, aber es gibt natürlich Probleme der Berücksichtigung historischer Räume in der zeitlichen Abfolge des historischen Geschehens. Das betrifft nicht nur Torgau, sondern alle 1815 vom Königreich Sachsen abgetrennten Gebiete, also die Sekundogenituren, die heute in Sachsen-Anhalt liegen, den Thüringischen Kreis mit Querfurt, Mansfeld, Barby, die Niederlausitz und das Görlitzer Gebiet. Dabei hat sich zum Beispiel die frühere Zugehörigkeit zu Sachsen in den Grenzen von vor 1815 durchaus im Traditionsverständnis der Menschen erhalten, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Aber auch der besondere Einschnitt von 1815 ist im Bewußtsein der Menschen vor allem in Sachsen bestehen geblieben. Dies sei an einem Beispiel deutlich gemacht. Der 1873 in Arnsdorf geborene und 1932 in Breslau verstorbene Schriftsteller Paul Keller hat in seinem „Märchen von den deutschen Flüssen“ über die Elbe den Vers verfasst: „Warum is denn die Elbe / bei Dresden so gelbe ? / Se schämt sich zu Schande. / Sie muss aus’m Lande./ Aus’m Lande so scheene, / so niedlich und kleene. / Denn gleich hinter Meißen, / pfui Spinne, kommt Preiß’n.“ So wird nicht nur die Situation nach 1815 skizziert, sondern auch der seit der aggressiven Politik König Friedrichs II. von Preußen gegenüber Sachsen bestehende Gegensatz zwischen Sachsen und Preußen verdeutlicht. So liegt vielleicht für manchen „Sachsen“ die Stadt Torgau noch immer in „Preußen“.“
Kulturkampf im 19. Jahrhundert
Die drei folgenden Fragen richteten sich an
Prof. O. Blaschke (Münster), der nachfolgend antwortete:
Christopher Clark ist in Ihrem Referat erwähnt worden. In seinem Buch “Schlafwandler” hat er gezeigt, wie die europäischen Mächte in den Ersten Weltkrieg hinein getaumelt sind. Kann man Ähnliches auch für die Folgen des Konfessionalismus sagen, dass man also blind in eine solche Situation hineingeraten ist?
„Zu unterscheiden ist das Buch von Christopher Clark und Wolfram Kaiser (Hg.) über Culture Wars (2003) von Clarks besonders erfolgreichen Buch über die Entstehungskonstellationen am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Hier handelt es sich um ein konkretes Ereignis, den Ausbruch eines Weltkrieges, und um ein benennbares Zeitfenster zwischen dem Mord am österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 und dem 1. August 1914. Insofern hinkt der Vergleich. Der Konfessionalismus baute sich – jenseits benennbarer Diplomaten und einer Handvoll Verantwortlicher – langsam und breit gestreut im frühen 19. Jahrhundert auf und umfaßte rund 100 bis 150 Jahre. Er steuerte nicht auf ein einzelnes Ereignis zu und war auch nicht durch eine Verantwortungselite kontrollierbar, sondern entfaltete seine je regionalspezifische und nationale Eigendynamik.“
Von wo geht der Konfessionalismus aus, von oben oder von unten?
„Das ist ein ausgesprochen langsamer mentalitätsgeschichtlicher Prozess. Teilweise kommt er von oben, etwa durch Impulse durch den Papst, anfangs aber durchaus von unten, wie bei den Begebenheiten um das Jahr 1817 gezeigt. Dazu kommt, dass er sich im Unterschied zum 18. Jahrhundert durch die Medien sehr viel besser kommunizieren ließ und verbreiten konnte als jemals zuvor.“
Wenn die Katholiken als “Reichsfeinde” gelten, es aber doch an den Universitäten und Forschungsinstituten Kreise gab, die ungeachtet der konfessionellen Zugehörigkeit bestens miteinander auskamen, muß man dann nicht sozial unterscheiden? Auf der Elitenebene spielte Konfession vielleicht doch keine Rolle?
„Man muß gewiß sozialgeschichtlich unterscheiden, ebenso wie regional und geschlechtergeschichtlich. Andererseits behaupten Historiker, es sei genau umgekehrt gewesen, gerade die Eliten seien es gewesen, die den Konfessionshaß säten, während das breitere Volk davon unberührt gewesen sei. Es gibt aber Beispiele für die Wirksamkeit des Konfessionalismus auch im Universitätswesen. Unter den Historikern etwa waren im 19. Jahrhundert bis zu 95% evangelisch und jüdisch. Katholiken waren massiv unterrepräsentiert. Aber das war der protestantischen Professorenschaft ebensowenig bewusst wie uns unsere “whiteness”. Auf dieser Tagung jedenfalls sehen wir keine “Farbigen” eingeladen. Bei der Planung des ersten Historikertages nach dem Zweiten Weltkrieg 1949 fiel Gerhard Ritter erst in letzter Sekunde auf, “dass sich unter uns [im Vorstand] kein Katholik befinde, was Empfindlichkeit erregen könne”, zumal der Historikertag in München stattfinden solle. Man entschied sich rasch, Franz Schnabel formell in den Vorstand mit aufzunehmen, der nicht allzu katholisch wirkte.“
Prof. D. Langewiesche (Tübingen)
bemerkte zu dem oben angesprochenen Komplex, speziell zu der Frage „War die Wissenschaft im 19. Jahrhundert konfessionell neutral?“ noch Folgendes:
„Für die deutschen Universitäten galt das nicht. Sie waren vielmehr durch und durch protestantisch kontaminiert. Katholiken und Juden hatten es schwer, einen Lehrstuhl zu erhalten. Dies traf insbesondere für Fächer (wie die Geschichtswissenschaft) zu, die als national bedeutsam galten. Das begann sich erst nach dem Ersten Weltkrieg zu ändern. Zuvor gab es in der Wissenschaft keine Chancengleichheit für Katholiken und für Juden. Juden wurden generell im Staatsdienst diskriminiert. Sie gingen deshalb in die sog. Freien Berufe (z.B. Rechtsanwälte, Ärzte), um der Benachteiligung im Öffentlichen Dienst zu entgehen.
Ein Grund für das antikatholische Ressentiment war, dass man meinte, Katholiken seien zur wissenschaftlichen Unabhängigkeit nicht fähig, da sie die katholische Glaubenslehre über die wissenschaftliche Erkenntnis stellen müßten. Da der Papst in Rom residiert, galten die Katholiken zudem als „ultramontan“, d.h. abhängig von einer Institution außerhalb des deutschen Staates und der deutschen Nation.
Die neuere Forschung zum Ultramontanismus hat gezeigt, dass er keineswegs nur „von oben“ aus der katholischen Kirche kam, sondern dass es auch einen „Ultramontanismus von unten“ gegeben hat, also aus den Gemeinden und aus dem Kreis der Gläubigen.
Gegenüber Juden waren die Vorbehalte anderer Art. Im deutschen Nationalstaat (1871) waren staatsbürgerliches Recht zwar nicht mehr religiös gebunden, doch faktisch blieben Juden vielfach benachteiligt. Es entstand damals eine Form von Antisemitismus, der Juden als Rasse definierte und sie nicht zur deutschen Nation rechnete. An die Universitäten zeigte sich die Benachteiligung von Juden darin, dass sie zwar einen hohen Anteil an den Studierenden und auch den Privatdozenten stellten, nicht aber an den Professoren mit festen Stellen und insbesondere mit einem Lehrstuhl.“
Zum „Kulturkampf im 19. Jahrhundert“ gab es weitere Bemerkungen,
Prof. A. Tacke (Trier)
„Betonen möchte ich, wie wichtig bei unserem Thema die mentalitätsgeschichtlichen Quellen sind. Nicht die historische und theologische Fachliteratur bestimmte im 19. Jahrhundert die Auseinandersetzung, sondern die sogenannten „graue Literatur“, die Vereinsschriften oder die regionale und überregionale Tagespresse. Eine Tagespresse, die oftmals mit einer Morgen- und Abendausgabe erschien, was die Aktion und Reaktion auf bestimmte Ereignisse beschleunigte.“
Und nochmals Prof. A. Tacke
„Etwas zu kurz kommt mir der Aspekt, dass beide großen Konfessionen sich im Deutschen Kaiserreich derart scharf voneinander abgrenzten, dass man oftmals hasserfüllte Reaktionen feststellen muss. Diese kamen reflexartig, so dass eine ergebnisoffene Auseinandersetzung gar nicht möglich war. Die Konfessionen hatten sich eingegraben – um es einmal militärisch zu formulieren- , die Grabenkämpfe waren ohne Aussicht auf „Geländegewinn“.“
Rückgang von Kirchlichkeit
Am zweiten Tagungstag wandte sich Prof. R. Hanisch (Auditorium) an das Podium:
In einem soeben erschienenen Aufsatz in einem Sammelband bei Campus habe Blaschke die Differenz von Pluralismus und Pluralität herausgearbeitet und ein differenziertes Verständnis von den Konflikten entworfen. Es gab Orte, an denen religiöse Mehrheit und Minderheit gut miteinander auskamen. Lucian Hölscher habe gezeigt, dass die Kirchenbindung im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter abnahm. Kann die Konfessionalisierung auch als eine Reaktion auf die Auswanderung aus den Kirchen und die Säkularisierung interpretiert werden?
Prof. O. Blaschke
„Das ist eine nachdenkenswerte These, aber ich würde den Kausalzusammenhang verneinen. Vielmehr muß man verschiedene Phasen unterscheiden. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fand, als Antwort auf die revolutionären und napoleonischen Umbrüche und auf die Desorientierung, eine Rückwendung zum Christentum statt. Es gewährte eine Neuorientierung, die mit Begriffen wie Rechristianisierung und Romantik bezeichnet werden. Tatsächlich löste sich ja das religiöse System von der Politik. Bischöfe waren nun wirklich Bischöfe und nicht mehr als Fürstbischöfe in erster Linie Herrscher. Priester wurden Priester und waren nicht mehr von der Schafaufzucht abhängig. Visitationen wurden durchgesetzt. Das religiöse System konnte sich darauf konzentrieren, Religion zu produzieren. Das verhalf ihr zum Aufstieg. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts steigen die Kirchenbesuchszahlen sogar, soweit wir lange Datenreihen vorliegen haben, wie sie Hölschers vierbändigem Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland zu entnehmen sind. Erst dann kommt die zweite Phase, bedingt durch zunehmendes Bevölkerungswachstum, Industrialisierung und Urbanisierung, die besonders in den Städten die Kirchenbesuchszahlen sinken läßt. Da war der Konfessionalismus aber bereits voll ausgebildet. Im übrigen darf man nicht erwarten, dass der Konflikt zu ständigen Auseinandersetzungen führte. Deshalb hat Armin Owzar seine Studie über Hamburg auch “Reden ist Silber, Schweigen ist Gold” betitelt. Wenn es heiß wurde, ging man aus der Gaststätte hinaus und wich dem Gegner aus. Gleichwohl bestand aber eine latente Konfliktstruktur mit ungeheuren Auswirkungen auf politischer, bildungsgeschichtlicher, kultureller und gesellschaftlicher Ebene, die sich etwa 1933 oder noch in der Adenauerzeit manifestierten. Dank der Medien wurden konfessionelle Positionen kommuniziert. Man provozierte sich gegenseitig. Das hat auch Andreas Tacke mit den unterschiedlichen Kirchenbauten in Berlin auf faszinierende Weise demonstrieren können. Katholiken wollten als Deutsche gleichberechtigt in Berlin sein, aber zugleich nicht nur Differenz zu den hegemonialen Protestanten bilden, sondern sogar den Altersvorsprung unter Rückgriff auf vorreformatorische Zeiten reklamieren. Dazu paßt, dass sie ihre wichtigste Zeitung in Berlin gleich Ende 1870 “Germania” genannt haben. Normalerweise hießen katholische Zeitungen Kölnische Volkzeitung oder Volksfreund. Aber Germania markierte einen urdeutschen Namen und damit einen urdeutschen Repräsentationsanspruch inmitten der Hauptstadt. Die Mitte Deutschlands und Berlin spielte in der mental map der Katholiken bis dato eine geringe Rolle. Sie lebten, wie gezeigt, in der Peripherie, und dort hatten sie andere Zentren wie Wien, München, Mainz oder Köln. Nun aber hatte Deutschland ein Zentrum, und genau dort platzierte sich die Germania. Das bestätigt die These eines Ringens um Gleichberechtigung bei gleichzeitiger Bewahrung der katholischen Identität.”
Prof. D. Langewiesche
„Zum Rückgang von Kirchlichkeit im 19. Jahrhundert sei weiter bedacht, dass man das 19. Jahrhundert zwischen Kirchlichkeit und Glauben trennen müsse. Die Teilnahme an den sonntäglichen Gottesdiensten ging vor allem in den größeren Städten zurück, und insbesondere im evangelischen Bildungsbürgertum. Doch die evangelischen Bildungsbürger blieben in der Kirche. Sie schickten ihre Kinder zur Konfirmation, heirateten kirchlich und ließen sich kirchlich bestatten.
Sozialistische Arbeiter traten in der Regel aus der Kirche aus, doch ihr Sozialismus wies durchaus religiöse Prägungen auf.
Für Bildungsbürger wie für die sozialistische Arbeiterschaft galt, dass Frauen stärker kirchlich gebunden blieben als Männer.
Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in seinem wichtigen Buch „Ein säkulares Zeitalter“ (Frankfurt/M 2009) von „Alternativenpluralisierung“ seit dem 19. Jahrhundert. Gemeint ist die Möglichkeit des Menschen in Europa, sich der lebensprägenden Kraft der Religion zu entziehen und ein Leben ohne Religion zu führen oder ohne die Verbindlichkeit kirchlicher Normen für ein religiöses Leben. Dieser Bruch mit der lebensweltlichen Allgegenwart von Religion, wie sie in der Vergangenheit normal gewesen ist, vollzog sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Heute wird diese Alternativenpluralisierung wieder zum Problem, wenn Zuwanderer aus anderen Kulturen ihre Religion im Alltagsleben sichtbar machen wollen, etwa in der Kleidung (Kopftuch u.a.). So konnte es zu der Absurdität kommen, dass Bürgermeister französischer Badeorte eine Art Bikinipflicht für Frauen am Strand verordneten, so dass muslimische Frauen, die sich nicht entblößen wollten, den Strand nicht mehr betreten konnten. Wenn Zuwanderer aus religiös geprägten Kulturen auf eine stark entkirchlichte Gesellschaft treffen, müssen beide Seiten nach Kooperationsformen suchen. Was heute Alternativenpluralisierung bedeuten soll, muss neu ausgehandelt werden.“
Orthodox, philipistisch, pietistisch – Profile sächsischer Universitäten
Prof. M. Schmoeckel ( Bonn)
„Die Tradition der Reformation prägte und prägt wohl noch die Universitäten Sachsens. Diese standen dabei nicht unvermittelt, sondern in einem klaren Wettbewerbsverhältnis zueinander. Während Leipzig sich durch die Orthodoxie zu profilieren versuchte, suchte insbesondere Jena in den meisten Epochen ein mehr philipistisches Profil. Mit dem Aufkommen von Halle und dem Pietismus wurde die Hierarchie der Universitäten noch einmal gründlich verändert. Der Rückgriff auf die Stellen der anderen protestantischen Universitäten des Reiches diente demgegenüber nur oft als Reservoir an Stellen und Personen.
Den Unterschied sieht man mitunter mit dem Blick auf einzelne Personen ganz deutlich: So konnte Pufendorf gerade eben nicht in Leipzig zu Ende studieren, sondern konnte sein Programm erst in Jena entfalten. Natürlich waren die Universitäten auch dem Wettstreit zwischen den albertinischen und den ernestinischen Fürsten ausgesetzt. So verstand sich insbesondere Jena im Dienst der Herzöge von Sachsen-Weimar.
Durch diese Diskussion innerhalb der sächsischen Universitäten darf jedoch nicht verkannt werden, dass alle drei sich darum bemühten, die wahren Nachfolger der Reformation zu sein. Alle die verschiedenen Standpunkte und Diskussionen der sächsischen Universitäten dienten also letztendlich nur dazu, die Belange, Angelegenheiten und Interessen der Reformation weiterzuentwickeln. Insgesamt stehen sie also zusammen sowohl für den inhaltlichen Reichtum der Reformation als auch für den Versuch, der jedenfalls bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts und der damaligen Universitätsreform galt, deren Anregungen auf der Ebene der Wissenschaft gerecht zu werden. Die Heftigkeit der Streitigkeiten bis zum beginnenden 19. Jahrhundert darf also nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es gerade in Sachsen, hier auch der Einfluss Preußens insbesondere wegen Halle, mit einem durch die Reformation geprägten Kulturraum zu tun haben, wobei die inhaltlichen Streitigkeiten nur darum gingen, dem ursprünglichen Auftrag möglichst gerecht zu werden.“
Einfluss der Architektur und der Bildenden Kunst
Prof. A. Tacke
„Aus kunsthistorischer Sicht sollte man die Rolle der Architektur und Bildenden Kunst bei der Festigung des eigenen konfessionellen Standpunkts nicht unterschätzen. Die Kunst des Historismus transportierte „Geschichtsbilder“, die sich mit ihrer Aussage so in den Schriftquellen nicht finden. Hier haben wir – vergleichbar der Literatur oder der Musik – eine eigene Diskursebene. Durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges ist in Vergessenheit geraten, dass bis dahin öffentliche Gebäude – wie Bahnhöfe, Schulen, Rathäuser oder Museen, aber auch Kirchen – mit großformatigen Gemälden / Fresken ausgestattet waren, die Darstellungen aus der Geschichte zeigten – Darstellungen, die eine „parteiische“ Sicht auf die Geschichte warfen.“
Zu Friedrich Ludwig Jahn
Worin liegen die tieferen Ursachen für die Verhaftung Friedrich Ludwig Jahns im Jahre 1819?
Dr. J. Ulfkotte (Dorsten)
„Jahn setzte sich nach der vernichtenden Niederlage der preußischen Armee bei Jena und Auerstedt (1806) und dem demütigenden Frieden von Tilsit (1807) vehement für die Beseitigung der französischen Fremdherrschaft ein. Ihm schwebte für die Zukunft ein einiges deutsches Reich mit einer Verfassung vor, dessen oberster Repräsentant der König von Preußen sein sollte. Von dieser Position rückte er auch nicht ab, als die 1814/15 auf dem Wiener Kongress versammelten Fürsten die Gründung des Deutschen Bundes beschlossen. Seine politischen Zielvorstellungen liefen der restaurativen Politik der Fürsten seitdem schnurstracks zuwider, sodass er früher oder später Gefahr lief, mit dem Staat in Konflikt zu geraten. Mit seinen vollmundigen öffentlichen Vorträgen über „Deutsches Volkstum“, die er im ersten Quartal des Jahres 1817 in Berlin hielt, zog er nicht nur die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich, sondern er verscherzte sich auch die Sympathien des Staatskanzlers v. Hardenberg, der ihm bis zu diesem Zeitpunkt durchaus gewogen war. Die Gegner des Turnens provozierte er mit beleidigenden Äußerungen, sodass sich Freunde und Feinde des Turnens mit zahlreichen Streitschriften befehdeten. Diesen Turnstreitigkeiten setzte der preußische König letztlich mit der Schließung der öffentlichen Turnplätze ein Ende setzte. Das Wartburgfest, insbesondere die aus dem Umfeld Jahns inszenierte Bücherverbrennung, verstärkte die Furcht der Fürsten vor einem drohenden Umsturz der Wiener Ordnung. Die Ermordung Kotzebues durch den Burschenschafter und Turner Carl Ludwig Sand nahmen die Behörden zum Anlass, die als staatsgefährdend ausgemachte Burschenschaftsbewegung ebenso zu unterdrücken wie die oppositionelle Turnbewegung um ihren Leiter Jahn, der jetzt als „geheimer Jugendverführer“ und „gefährlicher Demagoge“ verhaftet und kalt gestellt wurde.“