Reformation als Bewegung und Veränderung in Kirche und Staat
Tagung
Lutherische Reformation und staatliche Macht
Torgau/Elbe, 17. und 18. Oktober 2014
Ort: Torgau, Schloß Hartenfels, Plenarsaal, Flügel D (Innenhof), 2. Etage
Resümee
Die 17. Tagung begann mit einer Führung von Julia Wolschina durch die Sonderausstellung „Das Wort im Bild“ im Schloss Hartenfels in Torgau. Gezeigt wurden biblische Darstellungen an Prunkwaffen und Kunstgegenständen der Kurfürsten von Sachsen zur Reformationszeit. Frau Wolschina ist Mitarbeiterin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD).
In die Tagungsmappe wurden neben der Teilnehmerübersicht mit der Adressenliste, dem Wissenschafts- bzw. Tätigkeitsprofil der angemeldeten Personen (Teilnehmerzahl ca. 100) und dem Tagungsprogramm folgende Stücke eingefügt:
· die Zusammenfassungen der Tagungsvorträge (sieben Hauptvorträge)
· Luther Ideologie von Thomas Kaufmann und Heinz Schilling; Kopie eines Artikels, in: Die Welt, 24. Mai 2014
· Blick auf die Theologie von Christoph Markschies; Kopie eines Artikels, in: Die Welt, 7. Juni 2014
· Das Wort im Bild von Uwe Niedersen; Kopie eines Artikels, in: Torgauer Zeitung, 15. August 2014
· Neue Farbfassung am großen Wendelstein von Hansjochen Hancke; Kopie eines Artikels, in: Torgauer Zeitung, 12. September 2014.
Im Tagungssaal (Flügel D) befand sich der Büchertisch, der durch den Veranstalter und einigen Teilnehmern mit aktueller Literatur ausgestatten worden war.
Darüber hinaus sei darauf aufmerksam gemacht, dass der veranstaltende Verein eine weitere Webseite und zwar neu zur Reformationsdekade eröffnet hat: www.VesteBurg.com.
Im Tagungssaal waren weiter die Posterstände untergebracht, die zu folgenden Themen die Aufmerksamkeit erlangten:
· Kirchen in Torgau (Dieter Dudek u. Norbert Lange; Sachsen-Preußen-Kollegium, Torgau)
· Nachkommentafel D. Martin Luthers (Dirk Zimmermann; Torgau) und Liesa Riemer (Lutheride aus Torgau) mit Gegenständen zum Thema „Luther“.
· Wittenberg – Wirkungsstätten von Martin Luther und Philipp Melanchthon (Teil I), auf Ansichtskarten (Dr. Klaus Landschreiber; Sachsen-Preußen-Kollegium)
· Luther-Ehrung auf Münzen, Medaillen und Briefmarken (Detlev Arlt; Sachsen-Preußen-Kollegium)
· Bilder zur Reformation in Nordsachsen von Kunstmaler Volker Pohlenz
Eine Aquarell-Ausstellung (40 Stücke) zum Thema „Steinerne Zeugen der Reformation in Torgau und Umgebung“ wurde eröffnet. Ziel der Exposition war, das Thema „Reformation als Bewegung und Veränderung in Kirche und Staat“ über den Weg der Aquarell-Kunst den Tagungsteilnehmern näher zu bringen.
Die Exkursion zum Abschluss der Tagung führte die Interessierten in den Schlosshof. Dr. Hancke gab Informationen über das Schloß Hartenfels und über den gerade in der Restaurierung sich befindenden Wendelstein. Hier war die Artikelkopie „Neue Farbfassung am großen Wendelstein“ aus der Tagungsmappe gut einsetzbar.
Die Begehung der Stadtkirche St. Marien übernahm Dieter Dudek (Sachsen-Preußen-Kollegium). Nicht nur der Fakt, das Torgau bereits 973 urkundlich genannt wurde; mitgeteilt wurde auch, dass es bereits früh eine Kirche gegeben habe; später geweiht und dann als Stadtpfarrkirche Unser Lieben Frauen (Marienkirche) genutzt. Die Bautätigkeit dafür gab es schon im ersten Drittel des 13. Jhdts. Der gotische Neubau als Hallenkirche, heute etwa so zu besichtigen, erfolgte 1382–1407.
Da die Zusammenfassungen der Vorträge bereits in den Tagungsmappen mit vorgelegt worden waren,
erfolgen nunmehr Inhalte der Podiumsdiskussion:
Einleitende Bemerkungen (U. Niedersen)
Die in den vergangenen Jahren absolvierten Tagungsserien des Fördervereins Europa Begegnungen e.V., etwa die zu „Sachsen, Preußen und Napoleon. Europa in der Zeit von 1806 bis 1815“ hatten während der Podiumsdiskussionen schon mehrmals die Frage nach der Methode der Geschichtsschreibung, dem Bewerten von Geschichte, dem Aufnehmen historischer Zusammenhänge und Positionen zu historischen Gedenken aufwerfen lassen.
Prof. Höbelt (Wien) vertrat etwa 2012 die Meinung, „Geschichte hängt mit Geschichten zusammen, und das heißt auch: Sie soll lesbar sein, Spaß machen und Interesse wecken. Wenn sie das tut, wird die Geschichtswissenschaft florieren, so wie sie das z.B. in den angelsächsischen Ländern tut. Auf philosophische oder gar politdidaktische Begründungen kann man dabei gerne verzichten. Das Bild von Personen und Ereignissen in einer breiteren Öffentlichkeit wird sich auch fast nie mit den jüngsten Ergebnissen der Forschung decken. Richelieu wird den meisten aus den „Drei Musketieren“ bekannt sein, nicht aus der Edition seiner Korrespondenz. Gerade daraus kann sich eine produktive Spannung ergeben. Denn nichts ist langweiliger als Nonstop Konsens und verbindliche Sprachreglungen.“
Prof. Stamm-Kuhlmann (Greifswald) vertrat damals zum „historischen Gedenken“ die Meinung, „dass eine Tendenz in der Ausgestaltung eines Gedenkens legitim sei und zwar dann, wenn diese Tendenz sichtbar gemacht wird und keine wesentlichen Geschichtstatsachen unterschlagen werden. Die Forderung, man möge Personen „in ihrer Zeit“ verstehen ist hingegen dann gerechtfertigt, wenn Maßstäbe drohen an diese Personen angelegt zu werden, die zu ihren Lebzeiten noch nicht zur Verfügung standen.
Hierin befindet man sich allerdings oft im Irrtum, zu beachten wären die schon zu der damaligen Zeit durchaus bestehenden Alternativen zu den tatsächlichen Haltungen der historischen Personen.
Prof. Höbelt gab dem gegenüber jedoch zu bedenken, „dass man mitunter der Eindruck haben kann, wie wenn es die Geschichte der Nachwelt nie recht machen konnte.“
Hieraus ergab sich schon damals die Frage: Kann man aus der Geschichte lernen?
Die Diskussion dazu offenbarte: Wohl eher nicht! Aus der Geschichte lernt man nur das, was man lernen will.
Heute haben wir die Tagungsserie „Reformation als Bewegung und Veränderung in Kirche und Staat“ eröffnet und mitunter gab es wiederum in der dazu gehörenden Podiumsdiskussion Wortmeldungen zu dem genannten „alten Thema“, nämlich zur Frage nach dem Umgang mit der Geschichte.
Die Podiumsdiskussion
(bearbeitet von Uwe Niedersen)
Über das Schreiben von Kirchengeschichte
Prof. K. Berger (Heidelberg)
„Der Sinn der Beschäftigung mit Theologie ist vor allem, dass man kritisch wird gegenüber allen möglichen Ideologien, die sich in der Theologie und daher auch in der Verkündigung leicht einnisten. Deshalb ist aus meiner Sicht eine grundlegende Reform des Umgangs mit der Bibel notwendig. Die historisch-kritische Exegese hat die Schrift nicht näher gebracht, sondern sie zerstört. Denn wie andere Ideologien auch hat sie versucht, mit sachfremden Kriterien die Aussagen der Schrift zu manipulieren. So hat man die Schrift durch die Brille von Ökofeminismus, Sozialismus und Psychologie zu lesen versucht. Dabei kam nur das heraus, was man hineinlas, nämlich Zeitgeist. Besonders verheerend ist das besonders für die Evangelien und in der Apostelgeschichte angewandte Verfahren, den Berichten den Boden der Geschichte unter den Füßen wegzuziehen. Damit machte man den materialistischen Positivismus des 19.Jahrhunderts zur Basis der Erklärungen. So aber wurden die Leser nicht befreit, sondern durch Zerstörung der Geschichte belastet. Doch die Bibel lebt in Wahrheit von dem, was fremd an ihr ist oder zu sein scheint.“
Berger weiter: „Die Übereinstimmungen zwischen Luther und den frühen Zisterziensern weisen in diese Richtung: Spiritualität ist der Weg in die Weite, in die Freiheit. Denn für jeden Text ist neu zu fragen: Was sagt er über Gott, über Jesus Christus als die Mitte?“
Luther und Mitmenschlichkeit
Im Anschluss an den Vortrag von Prof. A. Lexutt „Vom Kern der Nuss zur ganzen Frucht – Grundzüge der Theologie Martin Luthers und ihre Verankerung im Lutherischen Bekenntnis“ gab es durch
Prof. W. Reinhard (Freiburg i. Br.) folgende Anfragen: „a) wie Luther identifizieren Sie "Mitgeschöpf" kurzerhand als "Mitmensch". Wir haben heute aber einen sehr viel weiteren Begriff von "Mitgeschöpf", "Verantwortung für die Schöpfung" etc., b) Luthers Mitmenschlichkeit hielt sich bisweilen sehr in Grenzen, etwa, wenn er von Behinderten schrieb, da sie nur fressen und saufen täten, sollte man sie einfach ertränken.“
Prof. A. Lexutt (Gießen) bemerkte dazu: „Zunächst ist es sicher richtig, dass Luther selbst noch nicht in der Weise vom Mitgeschöpf“ sprach, wie wir das heute selbstverständlich tun. An Tiere und Pflanzen zu denken, wenn von der Schöpfung die Rede ist, ist eine Entwicklung, die erst mit der Aufklärung aufkommt (in nahezu absurder Weise dann in der Physikotheologie) und dann vor allem (im Blick auf das Tier) mit Albert Schweitzer Einzug in die Theologie hält. Selbst wenn nun aber Luther noch nicht so weit war, ist dies kein Denken, das nicht mit seinen Grundüberzeugungen in Übereinstimmung zu bringen wäre. Zum zweiten ist es ebenfalls richtig, dass Luther in der Tat gegenüber behindertem Leben nicht nachsichtig war – das er allerdings für vom Teufel geschaffenes oder besessenes Leben hielt. Schließlich ist festzuhalten, dass Luther keineswegs alle Mitmenschen achtete und ihnen als Mitgeschöpf freundlich begegnete. Ist manches davon verständlich und nachvollziehbar, so anderes unsäglich (etwa seine späte Polemik gegen die Juden). Ohne jedoch nun zynisch sein zu wollen, gilt dafür aber auch: Man darf sich über jedes Fehlverhalten Luthers durchaus freuen – zeigt es doch, dass es eben nie um Luther gehen darf, sondern um das gehen muss, auf das Luther hinweisen wollte: um Jesus Christus und seine Botschaft.“
Freiheitsverständnis
Prof. R. Rieger (Tübingen): „Auf Ihre Frage (die von U. Niedersen) nach dem Freiheitsverständnis der friedlichen Revolution in der DDR meine ich, dass dazu die Quellen, die davon zeugen, genauer betrachtet werden müssten. Bei evangelischen Christen könnte Luthers Freiheitsverständnis einen Hintergrund gebildet haben, das jedoch auch (wie schon öfter in der Geschichte, z.B. in Bauerkriegen) jedenfalls teilweise missverstanden worden sein könnte. Daneben könnte das Freiheitsverständnis der Aufklärung oder das marxistischer Herkunft (z.B. bei Rosa Luxemburg u.a.) eine Rolle gespielt haben. Vielleicht gibt es noch andere Quellen, z.B. bestimmte Vorstellungen von „westlicher (Konsum-)Freiheit“. Aber das sind rein theoretische Erwägungen. Gut wäre es, zu dieser Frage Zeitzeugen der friedlichen Revolution und noch lebende Beteiligte zu befragen.“
Religion, Gesellschaft und Zukunft im Zeichen des Reformationsgedenkens
Zielvorstellungen in der Geschichte. Lässt sich Religion ausstellen?
Rainer Haschke (Dresden) bemerkte aus dem Auditorium heraus, dass die in Torgau für 2015 geplante
1. Nationale Sonderausstellung „Luther und die Fürsten“ der Öffentlichkeit außerhalb Torgaus zu wenig bekannt sei.
Außerdem wurde der Wunsch geäußert, in der 1. Nationalen Sonderaustellung in Torgau doch nicht zu viele religiöse Themen zu berücksichtigen, da diese nicht verstanden und auf geringes Interesse stoßen würden.
Prof. R. Rieger versuchte hinsichtlich dieser Bemerkung klarzumachen, „dass es der christlichen Religion nicht um eine jenseitige Überwelt geht, die man annehmen oder ablehnen könne, sondern um das Sein, Wesen und Schicksal des Menschen im allgemeinen und der Menschen im einzelnen. Deshalb sei es Aufgabe der Theologie und des Theologiestudiums, die religiösen Texte der Bibel und der Kirchengeschichte, auch die Luthers, so zu verstehen und zu übersetzen, dass diese Zielrichtung deutlich werde.“
Des Weiteren gab es Bemerkungen über das Fehlen von Zielvorstellungen in der Geschichte.
Prof. K. Berger bemerkte: „Auf die Klage über das Fehlen von Zielvorstellungen in der Geschichte ist zu antworten: Der Zisterzienser-Abt Joachim von Fiore (+ 1202) liefert ein Geschichtsbild, dem man Faszination und Stringenz nicht absprechen kann. Nach Abt Joachim gibt es ein Reich des Vaters (Altes Testament), ein Reich des Sohnes (Neues Testament bis ca. 1200 n.Chr.) und ein Reich des Heiligen Geistes (von Abt Joachim an). Das Letztgenannte ist das wahre „dritte Reich“, von dem die Nazis nur den Namen entwendet haben. Das sollte man sich als Christ nicht dauerhaft gefallen lassen. Denn das „dritte Reich“ sc, das Reich des Heiligen Geistes ist diejenige Epoche, in der Bischöfe und Päpste in ihrer Autorität in den Hintergrund treten. An die Stelle von engem Recht und engen Dogmen tritt umfassend das Wirken des Heiligen Geistes. In der Kirche herrscht der Geist der Geschwisterlichkeit. In der Kirche regiert eine intellektuelle und spirituelle, monastische Elite.- Da ein solches Geschichtsbild von Herz und Verstand der Menschen ausgeht, ist es weitaus chancenreicher als materialistische oder militaristische Geschichtsbilder.“
Prof. A. Lexutt wies darauf hin, dass der „theologischen Perspektive“ als eigenständige Wesenheit ein angemessener Raum zu geben sei. Sie fragte: „Wie lässt sich im Blick auf 2017 neben der zu Recht sehr stark gemachten allgemeinhistorischen Perspektive die theologische in angemessener Weise zur Sprache bringen? Wie „bringen wir“ diese Perspektive „ins Museum“? Bei aller durchaus berechtigten Kritik am EKD-Papier (Evangelische Kirche in Deutschland) „Rechtfertigung und Freiheit“ ist ja dies das Anliegen des Papiers gewesen: der Theologie in diesem ganzen Gedanken einen angemessenen Raum zu geben. Und wir können an die Reformation beileibe nicht ohne ihre theologischen Implikate denken!“
Prof. J. Burkhardt (Augsburg) würdigte den oft die Augen öffnenden Erkenntnisgewinn durch die Auslegung der Lutherschriften durch die theologischen Experten auf der Tagung in Torgau, aber es waren doch hochkomplexe Texte für heutige Leser, und in ihrer Tiefendimension auch für damalige Menschen kaum rezipierbar. „Es gibt übrigens auch verständlichere“, meinte Burkhardt und verwies auf von ihm edierte und kommentierte Lutherschriften („Von Kaufshandel und Wucher“, in: Burkhardt/Priddat: Geschichte der Ökonomie, oder auch die glasklare Schrift „Wider Hans Worst“, vgl. Burkhardt, Reformationsjahrhundert). Die auf den Punkt gebrachte Bemerkung von Frau Lexut, dass man Religion nicht ausstellen könne, (siehe deren Beitrag unten, unter Konfessionsbildung; Konfessionalisierung), nahm Burkhardt in der Museumsdebatte zum Anlass für den Vorschlag, doch bei Ausstellungen von der heute mehr Aufmerksamkeit findenden mediengeschichtlichen Seite heranzugehen, die in der Reformationszeit ja gerade mit dem religiösen Kernansatz am „Evangelium“ zusammenfalle. Burkhardt verwies auf den anschaulich vor Augen zu führenden „Flugschriftenberg“ 1517-1525, bei dem es fast ausschließlich um Luther und die Bibel ging, und natürlich die massenhafte Verbreitung der „Lutherbibel“ selbst. Torgau war allerdings kein herausragender Druckort, sondern Wittenberg und Augsburg (bzw. für die Gegenschriften Leipzig und Dresden), aber die Residenzstadt und Torgauer Kanzlei kommen durch die Visitationsinstruktionen und –protokolle ins Spiel, die geradezu moderne Fragebogentechniken entwickelten. Auf Rückfragen nach der Reichweite dieser regional-deutschen Kommunikationszentrale verwies Burkhardt auf die europaweit wirkenden lateinischen Schriften Luthers (z.B. auf Calvin) und später die stark literarisch unterfütterte pietistische wie jesuitische weltweite Missionstätigkeit.
Perspektiven der Gesellschaft
Claus-Peter Grobe (Mühlberg) stellte ebenfalls aus dem Auditorium heraus eine komplexe Frage und zwar die nach den Perspektiven, nach der Zukunft unserer Welt.
Prof. W. Reinhard gab zu bedenken, dass „1. Historiker für Zukunftsprognosen nicht kompetent sind, dass aber 2. andere Sozialwissenschaften, die das beanspruchen, dabei bisher eher versagt haben, etwa beim Ende der DDR und dass 3. nichtsdestoweniger einiges darauf hindeutet, dass wir eine dezentrale, diffuse Welt bekommen werden, die nicht nicht mehr eindeutig organisiert, sondern uneindeutig vernetzt ist.“
Auf die o.g. Bemerkungen aus dem Auditorium, die teils die größere Wichtigkeit materieller Probleme heute geltend machten, teils aber gerade den Verlust von Religion beklagten und nach Zukunftsperspektiven fragten, meinte
Prof. J. Burkhardt: „Im Blick auf die Geschichte sollten wir trotz aller Probleme dankbar sein für die Epoche, in der wir in Europa leben. Die meisten von uns säßen hier gar nicht mehr, wenn wir in Luthers Zeiten oder auch nur im 19. oder frühen 20. Jahrhundert gelebt hätten, ja selbst die schlechter Gestellten leben besser als je zuvor die schlechter Gestellten, und auch mehr Freiheit als jetzt gab es in Mitteleuropa nie, von Frieden und Recht ganz zu schweigen. Die ganz großen gesellschaftlichen Zukunftsperspektiven (ein Diskutant sprach auch den Marxismus an) bringen nichts oder gar Schlechteres, ist eine Lehre der Geschichte. Die Bewahrung und wirkliche Durchführung des europäischen Wertesystems, die Wachsamkeit und Korrekturen gegenüber Fehlentwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Bewahrung der Natur, oder religiös gesprochen der Schöpfung, sind Aufgabe genug. Dazu gehört auch das kulturelle Angebot unserer Gesellschaft, zu dem für die einen die Religion existentiell dazugehört, für die anderen die Achtung vor der kulturstiftenden Wirkung von Religion, an die uns die Reformationszeit nachdrücklich erinnern kann, die aber heute auch auf den Umgang mit anderen Religionen auszudehnen ist.“
Konfessionsbildung; Konfessionalisierung
Prof. W. Reinhard definierte die eigene Herangehensweise im Unterschied zu der von Ernst Walter Zeeden. Dieser war der Begründer der Idee von der „Konfessionsbildung“ (1956): „Im Gegensatz zu diesem und seinen SchülerInnen habe ich mich bei der Lektüre der Quelle und der Arbeiten der Zeeden-Schule von sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten inspirieren lassen, u. a. von Luhmann und eine Art systematisches Raster erstellt (siehe meinen Vortrag hier und (u.a.) den an den Veranstalter übersandten Aufsatz "Konfession und Konfessionalisierung in Europa", in: W. Reinhard (Hg.): Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang, München 1981, 165-189).“
Prof. W. Reinhard gab dann folgende Beispiele für die langfristige Allgegenwart des konfessionellen Gesichtspunkts:
„Die Kontrolle von Beichte und Gottesdienstbesuch, die bei Herzog Georg von Sachsen zuerst auftaucht, wurde bald bei allen Konfessionen üblich - der von Papst Gregor XIII. 1582 reformierte Kalender wurde von den deutschen Evangelischen erst 1700, von England und Schweden erst um 1750, von Russland erst 1917, von Griechenland erst 1922 angenommen, eben weil er papistisch war - im Ersten Weltkrieg wurde heftig mit christlich-konfessionellen Argumenten gestritten (Kriegspredigten, Äußerungen von Theologen), aber paradoxerweise auf beiden Seiten ("Gott mit uns" stand auf dem preußischen Koppelschloss, aber die Anderen hatten ihn ebenso auf ihrer Seite) – Kollege (Heinz) Schilling faltete als Protestant im katholischen Kindergarten beim Gebet die Hände auf evangelische Weise und bekam dafür eine Ohrfeige, in den 1950er Jahren in Köln - heute noch sind Protestanten und ehemalige Protestanten daran zu erkennen, dass sie "die Maria" schreiben, während Katholiken aus unbekannten Gründen den Artikel wegzulassen pflegen.“
Prof. J. Burkhardt übernimmt anders als Reinhard den ursprünglichen, von Ernst Walter Zeeden eingeführten Begriff „Konfessionsbildung“, um den frühen, direkt aus Luthers Reformation hervorgehenden Entstehungsprozess der evangelischen und dann auch der anderen Konfessionen zu betonen - einschließlich der neu gegründeten katholischen Konfessionskirche!
Der von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling in die Geschichtswissenschaft eingeführte Begriff „Konfessionalisierung“ tendiert zur Spätdatierung, akzentuiert die konfessionalisierende Rolle des Staates, setzt aber - wie Reinhard Burkhardts verkürzenden Vortragsbeitrag diskret korrigierte - analytischer mit einem sozialwissenschaftlichen „Raster“ der gleichartigen konfessionellen Gruppenbildung an.
Burkhardt betonte, dass er diesen viel beachteten „Reinhard-Katalog“ weitgehend übernommen, aber weitergeführt habe: Die Mittel sind gleich, aber ihr Stellenwert in den jeweiligen Konfessionsbildungen verschieden (z.B. ist das klare Lehrbekenntnis evangelisch die erste, katholisch die letzte Sorge) mit den im Burkhardt-Vortrag bezeichneten Folgen für Toleranz und Kultur. Über solchen unterschiedlichen Forschungsakzenten sollte man (nach Burkhardt) das gemeinsame Anliegen der Überwindung einseitiger Kontinuitäts- oder Innovationsansprüche im Reformationszeitalter durch die Nebenordnung mehrerer Konfessionen nicht vergessen.
Prof. A. Lexutt äußerte sich zur Konfessionalisierungsdebatte: „Ist „Konfession“ und „nicht gelingende Ökumene“ ein Fluch? Meiner Ansicht nach schärfen die verschiedenen Konfessionen auch das Bewusstsein dafür, worum es in der Theologie eigentlich geht. Würde man über das Abendmahl öffentlich nachdenken, wenn wir darin einig wären?
Die Konfessionalisierungsdebatte hat etwas sehr Wichtiges und Richtiges herausgearbeitet: Die Reformation war eine Medienrevolution, mindestens ein Medienereignis. Das könnte (und sollte!) ein Anstoß für heute sein, die Kraft der Medien viel stärker zu nutzen – auch und gerade für die theologische Botschaft, die mit Luther aus der Schrift zu erfahren ist. Dafür allerdings braucht es Menschen, die in der Theologie und in den Medien gut „zu Hause“ sind.“
Prof. W. Reinhard gab hinsichtlich „Reformation und Medienrevolution“ allgemein zu Bedenken, „ob man nicht die historische Abfolge und sogar die Kausalität umkehren müsse: nicht die Reformation hat die Medienrevolution und das landesherrliche Kirchenregiment hervorgebracht, sondern beides war vorher da, konvergierte nur mit der Reformation oder brachte sie sogar mit hervor, verallgemeinert: nicht die Moderne ist ein Produkt der Reformation, sondern die Reformation ein Ergebnis der Moderne!“
Wettinische Länder im 16. Jahrhundert und das gegenwärtige historische Verständnis in der Reformationsdekade
Prof. R. Groß (Kreischa): „Als die zwei ersten Problemkreise des Podiumsgesprächs wurden die territoriale Situation der wettinischen Länder im 16. Jahrhundert und deren Entwicklung in Bezug auf das gegenwärtige historische Verständnis in der Reformationsdekade sowie die mögliche Dokumentation in der in Vorbereitung befindlichen Ausstellung „Luther und die Fürsten“ im Jahre 2015 in Torgau angesprochen.
Bei der Darstellung der territorialstaatlichen Situation ist streng darauf zu achten, dass Luther in dem 1485 entstandenen ernestinischen Kurfürstentum Sachsen lebte und wirkte. Dementsprechend steht sein Verhältnis zu den ernestinischen Kurfürsten Friedrich III. (der Weise), Johann (der Beständige) und Johann Friedrich (der Großmütige) im Vordergrund. Der Albertiner Georg (der Bärtige) verhinderte bis zu seinem Tod 1539 als ein entschiedener Gegner Luthers die Einführung der Reformation im albertinischen Herzogtum Sachsen. Erst unter seinem jüngeren Bruder Heinrich (der Fromme) setzte sich die lutherische Lehre im albertinischen Herzogtum Sachsen durch. Nach der Wittenberger Kapitulation 1547 und der damit erfolgten Bildung des albertinischen Kurfürstentums Sachsen wurde dann dieser neue frühneuzeitliche Staat, in welchem Torgau die Rolle einer Nebenresidenz zugewiesen war, der Träger der Reformation in Deutschland und Europa. Da 1815 knapp zwei Drittel dieses Kurfürstentums, ab 1806 Königreiches, in den preußischen Staat einverleibt wurden und damit Torgau preußisch wurde, trat in der offiziellen Geschichtsschreibung die Bedeutung Torgaus im 16. Jahrhundert in den Hintergrund.
Zum zweiten Problemkreis. Aus der vorstehend geschilderten Situation ergeben sich objektiv die Möglichkeiten einer Dokumentation in Bezug auf die schriftliche Überlieferung. Für das ernestinische Kurfürstentum Sachsen wird die archivalische Überlieferung im Thüringischen Hauptstaatsarchiv in Weimar aufbewahrt, wobei vor allem der Archivbestand Ernestinisches Gesamtarchiv in Frage kommt. Für das albertinische Herzogtum / Kurfürstentum Sachsen ist das Sächsische Hauptstaatsarchiv in Dresden zuständig. Nach dem Jahr 1815 musste ein Teil der archivalischen Überlieferung an Preußen abgegeben werden. Dieser Teil wird heute im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt in Magdeburg aufbewahrt. Eine nahezu vollständige Druckschriftensammlung der Lutherzeit findet sich in der Staatlichen Lutherhalle Wittenberg. Einen Überblick zu dieser schriftlichen und gedruckten Überlieferung gibt die Publikation „Martin Luther 1483 – 1546. Dokumente seines Lebens und Wirkens. Verlag Hermann Böhlaus Nachf. Weinar 1983“. Ebenso geben die Veröffentlichungen zur 2. Sächsischen Landesausstellung „Glaube und Macht“ durch die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden weitergehende Informationen.“
Torgau – die sächsische Stadt
Dr. H. Hancke (Torgau) gab während des Podiumsgespräch dazu folgendes Statement: „Als Torgau 1815 zusammen mit fast zwei Dritteln sächsischen Staatsgebietes durch Beschluss des Wiener Kongresses an das Königreich Preußen fiel, hatten die Stadt und das Torgauer Land rund 900 Jahre Zugehörigkeit zum Sächsischen Kulturraum hinter sich.
Die Lage der Stadt unmittelbar an der Elbe hatte innerhalb der alten Mark Meißen und im späteren Kurfürstentum sowohl die Bedeutung als auch das Selbstbewusstsein geprägt. Darauf wurde weder 1815 Rücksicht genommen noch 1952 bei Auflösung der Länder und Einrichtung der Bezirke in der DDR.
Im Vorfeld des Beitritts der wieder zu begründenden Länder zur Bundesrepublik Deutschland korrigierte das Votum der Bürger des Kreises Torgau mit hoch über 93 % für Sachsen den Entscheid von 1815 mit historischer Dimension.
Im „Restsachsen“ von 1815 wirkte dies merkwürdigerweise mancherorts jedoch gewöhnungsbedürftig.“